Ganz entgegen meiner sonstigen Angewohnheit habe ich vor unserem Besuch in Chartres kein Buch gelesen, das mir die Kathedrale erklärt. Vielleicht ist es ganz gut so, denn so lasse ich die Kathedrale auf mich wirken, ohne Beeinflussung. Sonst würde sich der Kopf einschalten und versuchen alles Wichtige auch zu sehen. Anderseits habe ich sicherlich viel Wichtiges übersehen – ein guter Grund zurückzukehren 🙂
Eine Aussage, die mir allerdings im Kopf herumschwirrt ist diese: In der Kathedrale von Chartres sei das ganze Evangelium in Stein gemeißelt und in den Fenstern dargestellt. Ich will es gerne glauben, nachdem ich die Kathedrale mit eigenen Augen gesehen habe. Allerdings gebe ich zu, ohne eine Anleitung, verstehe ich wenig – wer oder was wird dort dargestellt?
So gehe ich also naiv in die Kathedrale hinein, ich habe Glück, die Haupttüren des Westportals sind geöffnet. Security überprüft meine Handtasche, das ist für mich okay, es gibt ein gutes Gefühl in der heutigen Zeit. So trete ich also ein und fühle die Energie dieser Kirche. Ich bin überwältigt, voller Ehrfurcht. Sie ist so schön. Ich habe schon viele Kirchen gesehen, den Lateran, den Petersdom oder Loreto. Aber diese ist besonders. Ist es das strahlende Blau der Fenster, die Höhe der Kirche, die Elemente? Ich schreite durch die Kathedrale, staunend, versuche alles wahr zu nehmen, zu spüren.
Die großen Rosettenfenster, das Blau, eine in Stein gehauene Pieta, eine Marienfigur im Seitenaltar, das Fenster von Mutter Maria,
die weibl. Figur im Altarraum. Ich fühle eine starke weibliche Energie, so anders, so neu für mich in einer Kirche wie dieser. Rund wie die Fenster, weich und kraftvoll. Mein Blick wandert die hohen Säulen entlang zur Decke. Es ist, als wenn die Kirche mich aufrichtet, obwohl ich mich so klein fühle angesichts der Ausmaße, eine besondere Ehrhabenheit erfüllt mich.
Auf dem Weg hinaus sehe ich das Labyrinth, zugestellt mit den Stühlen. Die Rose in der Mitte ist frei, doch ich betrete sie nicht. Vorfreude erfüllt mich, morgen werde ich sie gehen, diese Jahrhunderte alten Steine, die schon so viele Füße berührt haben. Morgen!